Sie überleben tiefste Minusgrade, halten extreme Hitze aus, sind gegen kosmische Strahlung gewappnet und krabbeln am Polarkreis und in der Tiefsee herum. Sie trotzen extremen Umweltbedingungen, können einige Jahrzehnte ohne Nahrung auskommen und waren die ersten Tiere, die im Weltall ohne Schutzanzug überlebt haben. Und das Allerbeste:
Es könnte leicht sein, dass einige dieser urzeitlich anmutenden Tiere mit Superkraft in Ihrem Garten oder in der Dachrinne Ihres Hauses wohnen, denn besonders wohl fühlen sich Bärtierchen zum Beispiel in Moos. Sie sind ein Phänomen, Wesen mit Superkräften, die widrigste Umweltbedingungen überleben, indem sie … eintrocknen. Das Bärtierchen trocknet aus und selbst nach vielen Jahren wird es mit ein paar Tropfen Wasser wieder lebendig!
Viele dieser faszinierenden Erkenntnisse hätten wir nicht, gäbe es nicht Prof. Dr. Ralph O. Schill vom Institut für Biomaterialien und biomolekulare Systeme in Stuttgart. Dort erforscht er unter anderem, wie Tiere auf Veränderungen in Ihrer Umwelt reagieren und welchen Einfluss dieses auf den gesamten Lebensraum und die biologische Vielfalt hat. An den Bärtierchen hat er wohl „einen Narren gefressen“. Zumindest ist er DER Experte in Sachen Bärtierchen und ist ihrem Geheimnis seit Jahren auf der Spur, wobei die ganze Geschichte schon vor etwas mehr als 250 Jahren begann:
„So ist es“, erzählt der Professor im Interview. „Pastor Johann August Ephraim Goeze aus Quedlinburg in Sachsen-Anhalt ging damals wie so oft mit seinem kleinen Kescher zu einem Tümpel hinter seiner Kirche und fischte kleine Wasserpflanzen und Insekten heraus, um sie später mit seinem selbstgebauten Mikroskop anzuschauen. Dabei entdeckte er ein kleines Tier, das er bis dahin noch nie gesehen hatte. Dieses Tier war so seltsam und ungewöhnlich und sah einem kleinen Bären so ähnlich, dass er es ‚kleiner Wasserbär‘ nannte. Er zeichnete es 1773 erstmals und veröffentlichte seine Entdeckung in einem Buch über Insekten.“
„Einige Jahre später entdeckte der italienische Naturwissenschaftler Lazzaro Spallanzani diese Tiere unabhängig von Pastor Goetze und stellte fest, dass sie die erstaunliche Fähigkeit besitzen, auszutrocknen und später wieder zum Leben zu erwachen“, so Ralph Schill. „Dieses Wiederaufleben von ausgetrockneten Tieren hatte vorher auch schon der holländische Naturforscher Antonie van Leeuwenhoek entdeckt. Im trockenen Staub einer Dachrinne fand er viele kleine Organismen, die sich nach Zugabe von Wasser wieder bewegten.“
Wie lange Bärtierchen in diesem Trockenstadium vital bleiben können, weiß man nicht genau. Die längste wissenschaftlich dokumentierte Überlebenszeit im getrockneten Zustand beträgt etwa 20 Jahre. Es gibt Berichte über Bärtierchen, die aus einem 120 Jahre alten Moos stammten und bei denen kurzzeitig Bewegung beobachtet wurde. Diese Beobachtungen sind jedoch umstritten, da die Bewegungen möglicherweise durch das Aufquellen der Tiere verursacht wurden. Die Forschung konzentriert sich nun mehr darauf, was in dieser Ruhephase mit dem Stoffwechsel der Tiere passiert.
„Wenn Bärtierchen im getrockneten Zustand sind, werden sie nicht älter, sondern bleiben genau so alt wie zum Zeitpunkt des Eintrocknens“, erzählt Prof. Ralph O. Schill. „Dieses Phänomen wird daher auch ‚Dornröschen-Hypothese‘ genannt. Sobald es regnet, werden sie wieder aktiv und suchen nach Nahrung. Es ist tatsächlich wie bei Dornröschen, das einschlief und erst nach 100 Jahren vom Prinzen wachgeküsst wurde. Aber mal ehrlich - wäre Dornröschen um 100 Jahre gealtert, hätte der Prinz sie wohl nicht wachgeküsst!“
Prof. Schill: „Wie genau das lange Überleben funktioniert, weiß man wie gesagt trotz intensiver Untersuchungen in den letzten 20 Jahren bis heute nicht genau. Klar ist aber, dass diese winzigen, ca. 1 Millimeter großen Tiere extremste Umweltverhältnisse überstehen. Die Bärtierchen können im getrockneten Zustand auch Temperaturen von bis zu 100 Grad eine Weile überleben, eine Temperatur, die in ihrer natürlichen Umgebung eigentlich nicht vorkommt.
Auch extreme Kälte ist kein Problem. Sie haben die Fähigkeit, das Gefrieren mit Gefrierschutz-Substanzen hinauszuzögern, sodass die meisten Bärtierchen erst bei rund -20 Grad Celsius gefrieren. Dann können sie die Eiskristallbildung beeinflussen, wodurch einige Arten sogar Temperaturen bis zu -253°C überleben. Auch auf unseren Gletschern sind Bärtierchen zu Hause. Dort tauen sie je nach Sonneneinstrahlung sogar mehrmals täglich auf und frieren wieder ein.“
„Ja, die Bärtierchen waren sogar schon im Weltall unterwegs“, bestätigt Schill. Sie waren auch die ersten Tiere, die einen Weltraumausflug ohne Schutzanzug überlebt haben, trotz der vielen verschiedenen Strahlungsarten, die für alle anderen Organismen lebensfeindlich sind. Damit sind sie natürlich für die Weltraumforschung äußerst interessant geworden. Einige Forscher stellen sich sogar vor, dass ihre Besatzungen in einen Überdauerungszustand versetzt werden könnten, um auf langen Flügen in den unendlichen Weiten des Weltalls neue Planeten zu entdecken.
„Die Erforschung der Überlebensstrategien der Bärtierchen könnte zu neuen Methoden der Langzeitkonservierung von biologischem Material führen, was besonders in der Medizin und Lebensmittelindustrie von großem Interesse ist. Wenn wir die Mechanismen der Trocken- und Gefriertoleranz bei Bärtierchen verstehen, könnten wir grundlegende Erkenntnisse über das Leben gewinnen und neue Konservierungstechniken entwickeln.“
Dank ihrer erstaunlichen Fähigkeiten haben Bärtierchen fast jeden Lebensraum auf unserer Erde erobert und fühlen sich überall wohl. Auch bei uns vor der Haustür, zwischen den Pflastersteinen oder auf den Dachziegeln, wo sich ein kleines bisschen Moos befindet.
Die Chance ist sehr groß, dass bei uns viele Bärtierchen leben und uns jeden Tag mit ihren winzigen Augen beobachten.
Professor Dr. Ralph O. Schill
hat uns für Sie, unsere Leserschaft gerne angeboten, dass er jederzeit weitere Fragen zu den Bärtierchen per MAIL beantwortet.
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